Ohne Kooperation droht die EU an der Energiekrise zu zerbrechen. Doch es ginge auch anders. Ein Vorschlag für eine bessere Energiepolitik, heute präsentiert von vier Ökonomen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.
Es wird zu wenig Gas eingespart, in Deutschland und in Europa. Seit Jahresbeginn hat Deutschland lediglich 11 Prozent weniger Gas verbraucht als im Vorjahreszeitraum. Innerhalb der EU waren es sogar nur 7 Prozent. Notwendig wäre aber eine Einsparung von etwa 15 Prozent, um gut über den Winter zu kommen.
Auch um das Energieangebot zu erhöhen, wird nicht genug getan. Deutschland ziert sich mit seinen Kern- und Kohlekraftwerken. Frankreich sperrt sich gegen eine Gasleitung, die Engpässe nach Spanien beheben könnte. Die Niederlande reduzieren ihre Gasförderung. Gleichzeitig wird der Energieverbrauch durch Subventionen zusätzlich angeheizt. Deutschland, Polen, Italien und die Niederlande haben die Mehrwertsteuer auf Gas gesenkt. Auch Österreich hat die Strom- und Erdgassteuern reduziert und will von Dezember an eine Strompreisbremse einführen. Frankreich subventioniert Strompreise in großem Umfang.
Dazu kommt der bis zu 200 Milliarden Euro teure „Doppelwumms“ der Bundesregierung. Der hat bei den europäischen Partnern die Befürchtung hervorgerufen, die deutsche Energienachfrage könne sich dadurch erhöhen. Selbst bei einer sehr geschickten pauschalen Entlastung von Haushalten und Unternehmen im Rahmen der Gaspreisbremse ist das Argument wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.
Subvention erhöht den Gaspreis
Es gibt keinen ausreichenden Anreiz für die Staaten Europas, das Angebot zu erhöhen und Gas zu sparen. Wenn Atomkraftwerke länger Strom produzieren oder die Gasförderung ausgeweitet wird, sinken zwar die Energiepreise in den Ländern, die solche zusätzlichen Anstrengungen unternehmen. Aber ein Großteil des Entlastungseffekts entsteht nicht im Ursprungsland, sondern in allen anderen Ländern des gemeinsamen Binnenmarktes. Damit reduziert sich der Anreiz zur Einsparung erheblich. Würden beispielsweise die Niederlande zusätzliches Gas fördern, wären durch den daraus resultierenden Rückgang des europäischen Gaspreises die finanziellen Einsparungen in Deutschland dreimal so hoch wie in den Niederlanden.
Gleichzeitig führt jede Subvention des Energieverbrauchs zu einer Preiserhöhung nicht nur im Inland, sondern auch für alle Haushalte und die Industrie im Ausland. Sollte Deutschland zum Beispiel 5 Prozentpunkte weniger Gas als geplant gegenüber den Vorjahren einsparen (das wären 50 Terawattstunden oder 50 Milliarden Kilowattstunden), würde der europäische Gaspreis infolge der erhöhten deutschen Nachfrage um 15 Euro je Megawattstunde ansteigen müssen, um genügend Gaskunden in den anderen Mitgliedstaaten vom Verbrauch abzuhalten. Das erhöht die deutsche Gasrechnung um 18 Milliarden Euro und die der anderen europäischen Länder um 37 Milliarden. Dazu kommen höhere Stromkosten in Höhe von sechs Milliarden Euro für Deutschland und 24 Milliarden für unsere Nachbarn. Legt man dies alles auf den angestrebten zusätzlichen Gasverbrauch in Deutschland um, ergeben sich – bei aller Vorsicht, die man bei einer groben Überschlagsrechnung walten lassen muss – Kosten in einer Größenordnung von gewaltigen 1,70 Euro je Kilowattstunde, wovon mehr als 1,20 Euro je Kilowattstunde unsere Nachbarn tragen müssten.
Besonders groß ist die Diskrepanz zwischen nationalen und europäischen Kosten in der Ländergruppe, in der die Importkapazitäten für Flüssiggas und der Zugang zu Pipelines begrenzt oder vollkommen ausgereizt sind. Zu dieser Gruppe zählen Deutschland, die Niederlande, Polen, Österreich, Dänemark und die Tschechische Republik. Jede Subvention des Gasverbrauchs in einem dieser Länder führt unweigerlich zu stark steigenden Gaspreisen in allen Ländern. Und je mehr andere Länder subventionieren, desto größer der Druck, auf dem heimischen Markt nachzuziehen. So steigt der Preis immer weiter, ohne dass sich an der Gasknappheit etwas ändert.
Keine Subventionierung und gesteigerte Förderung als Lösungen
Europäische Länder, die Gas direkt importieren, wie zum Beispiel Belgien, Frankreich, Griechenland und Spanien, sehen die Preisspirale in den Hochpreisländern mit großer Sorge, weil aufgrund vertraglicher Preisbindungen der hohe Preis auch auf sie überschwappt. Diese kämpfen daher für eine europäische Preisobergrenze, die gerade so hoch sein soll, dass sie ausreichend vom Weltmarkt beliefert werden. Der Gasfluss innerhalb Europas würde dann nicht mehr den Marktgesetzen folgen, sondern müsste unter den Mitgliedstaaten ausgehandelt werden. Im Ergebnis ist ein Rückgang der innereuropäischen Gasflüsse zu erwarten, was für ein Hochpreisland wie Deutschland überaus schmerzhafte Rationierungen in Form von erzwungenen Abschaltungen bedeuten würde. Diese Interessenkonflikte stellen die Solidarität und den Zusammenhalt der Europäischen Union auf eine sehr harte Probe.
Es gibt einen Ausweg aus dem Dilemma: Anstatt den heimischen Verbrauch zu subventionieren, muss die europäische Einsparung von Gas belohnt und das Gasangebot gleichzeitig erhöht werden.
Eine Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten sollte zunächst vorsehen, dass die Länder die direkte und indirekte Subventionierung ihres Gasverbrauchs beenden und gegenseitig alle Möglichkeiten ausschöpfen, das Angebot von Gas und seinen Substituten zu erhöhen. Regulatorische Barrieren müssen abgebaut und grenzüberschreitende Energieflüsse dürfen nicht behindert werden.
Zugleich sollte ein Fonds aufgelegt werden, der an jene Länder eine Prämie ausbezahlt, denen es gelungen ist, den Gasverbrauch zu senken. Die Erstimportländer hätten damit eine Versicherung, dass es nicht zu subventionsinduzierten Preissteigerungen kommt. Für die Hochpreisländer sinkt das Risiko der Rationierung, weil keine Preisobergrenze eingeführt wird.
Eine europäische Gasprämie, die an die Länder gezahlt wird, die gegenüber den Verbräuchen der Vorjahre Einsparungen erzielt haben, löst das Problem der glaubwürdigen Selbstbindung: Die Zahlung erfolgt erst, wenn der Einsparerfolg nachgewiesen werden kann. Die Prämie ist umso höher, je höher die erreichte Einsparung ist.
20 Prozent sparen, um nicht drauf zu zahlen
Die Prämie sollte aus einem europäischen Fonds finanziert werden, in den alle Mitgliedstaaten entsprechend ihrer Wirtschaftskraft beziehungsweise ihrer historischen Importe aus Russland einzahlen. Der Fonds könnte zunächst zwischen den Hochpreisländern eingeführt werden, weil hier der Subventionswettlauf am stärksten ist. Die Niedrigpreisländer könnten später dazukommen oder vom Fonds profitieren, wenn sie weiter ausreichend in Richtung der Hochpreisländer liefern. Damit könnte man zum Beispiel Spanien oder Griechenland zusätzliche Anreize geben, möglichst viel Gas in den Norden weiterzuleiten.
Für die Finanzierung eines Einsparziels von 20 Prozent und einer Einsparprämie von beispielsweise 10 Cent je Kilowattstunde müsste der Fonds für die Hochpreisländer etwa 56 Milliarden jährlich betragen. Deutschland müsste etwa ein Drittel des Gesamtvolumens finanzieren, wenn man den historischen Gasimport aus Russland zugrunde legt, auf Basis der Wirtschaftsleistung wären es 40 Prozent. Würde Deutschland 20 Prozent seines Verbrauches einsparen, bekäme es durch den Fonds genauso viel ausbezahlt, wie es einzahlt. Zusätzlich würde Deutschland von geringeren Gaspreisen aufgrund der Einsparungen der anderen Mitgliedstaaten profitieren.
Es steht viel auf dem Spiel. Angesichts der hohen Gaspreise droht die Europäische Union unter dem Anreiz, den nationalen Gasverbrauch auf Kosten anderer Mitgliedstaaten zu subventionieren, auseinanderzubrechen. Unser Modell stellt diesen absurden Anreiz auf den Kopf: Gaseinsparungen im eigenen Land und in anderen Ländern werden zum eigenen und europäischen Vorteil belohnt.
Erschienen am 22. Oktober 2022 auch in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.