Wenn die Erderhitzung auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, hilft nur eins: der Kohleausstieg. Warum er jetzt kommen muss – und wie er gelingen kann.
Nach acht Jahren hat der Weltklimarat IPCC kürzlich die nächste große Standortbestimmung zum globalen Kampf gegen die Erderhitzung vorgelegt, und der Befund ist glasklar: Diese Dekade entscheidet, ob der Planet noch die Kurve kriegt. Um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad zu begrenzen, muss die Welt vor allem eins: raus aus der Kohle. Bis 2030 müssen die CO₂-Emissionen der globalen Kohlenutzung um rund 70 Prozent gegenüber 2020 gesenkt werden.
Kohle ist immer noch die Hauptstromquelle der Welt und vielerorts auch eine wichtige Wärmequelle. Und Kohle ist der mit Abstand klimaschädlichste fossile Energieträger. Längst gibt es Alternativen: Wind- und Sonnenkraftwerke, Batterietechnik, Wärmepumpen – Technologien, die die Energie emissionsfrei aus erneuerbaren Quellen bereitstellen können, stehen immer günstiger zur Verfügung.
Das Ambitionsniveau, das der IPCC-Bericht jetzt anmahnt, ist enorm. Schon der hierzulande als ehrgeizig geltende deutsche Kohleausstieg besteht den 1,5-Grad-Ziel-Test nicht: Der beschlossene Ausstiegspfad läuft zwischen 2020 und 2030 auf 50 Prozent Kapazitätsrückgang bei der Kohleverstromung hinaus, das ist kompatibel mit 2-Grad-Szenarien. Die IPCC-Vorgabe bezieht sich jedoch nicht auf ein einziges und zumal wohlhabendes Land, sondern auf die ganze Welt: darunter Schwellenländer, die mitten in der Industrialisierung stecken, und Entwicklungsländer, die darauf hinarbeiten. Dazu braucht es sehr viel Energie – und Kohle war bisher der Treibstoff für die wirtschaftliche Entwicklung. Genau bei dieser Gesetzmäßigkeit muss das Umsteuern ansetzen.
Internationale Lösungen müssen die politische Ökonomie berücksichtigen
Eine zentrale Botschaft des IPCC-Berichts lautet: Neue Kohlekraftwerke, egal wo auf der Welt, sind mit dem Klimaschutz nicht mehr in Einklang zu bringen. Die derzeit geplanten Kraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 485 Gigawatt – mehr als die Hälfte davon in China – dürfen nie gebaut werden. Immerhin: Seit 2015 wurden schon Pläne für Neubauten mit insgesamt 1175 Gigawatt verworfen. Doch die Trendwende ist noch nicht geschafft. Global betrachtet wurden auch 2021 mehr neue Kohlekraftwerke an- als alte abgeschaltet. In China wurde während der Pandemie sogar das Tempo dieses Kohle-Wachstums gesteigert. Auch Indien, Indonesien, Vietnam und weitere Schwellenländer setzen weiterhin auf Kohle, um ihren schnell wachsenden Hunger nach Energie zu stillen.
Hinzu kommt: Keine neuen Kohlekraftwerke mehr ans Netz zu nehmen, reicht noch lange nicht aus – es müssen vor allem auch die Laufzeiten der jetzigen Kohleflotte stark verkürzt, deren Auslastung stetig verringert und zudem die CO₂-Intensität der Kohleverstromung durch Beifeuerung von Biomasse gesenkt werden. Nur so kann genug CO₂ gespart werden, um die Klimaziele in Reichweite zu halten.
Warum ist es so schwer, umzusteuern? Sauberer Strom benötigt in der Investitionsphase vergleichsweise viel Kapital, und das ist in Schwellen- und Entwicklungsländern häufig extrem teuer. Auch fehlt dort oft das Vertrauen in die eigene institutionelle und technologische Kapazität zum Umgang mit erneuerbaren Energien. Vor allem aber spielt der Kohle-Nutzung die politische Ökonomie in die Hände: In bestimmten Regionen stellt die Kohleindustrie gut bezahlte Arbeitsplätze bereit, die Einnahmen aus der Kohle stützen viele Staatshaushalte und die Kohlelobby ist traditionell auch sehr gut mit den politischen Eliten vernetzt.
Internationale Lösungen müssen das berücksichtigen. Eine CO₂-Bepreisung, wie sie in Form des Europäischen Emissionshandel als Motor der Energiewende funktioniert, ist in vielen Schwellenländern nicht das erste Mittel der Wahl: Energiepreise werden hier aus politischen Gründen niedrig gehalten, zudem sind Marktstrukturen verkrustet, so dass höhere Preise gar nicht an private Haushalte weitergegeben würden. Das ist auch ein Grund dafür, dass Energieversorger in Schwellenländern chronisch überschuldet sind und Investitionen in Erneuerbare und ihre Infrastruktur nicht stemmen können.
Eine weitere verlorene Dekade können wir uns nicht erlauben
Drei jüngere Entwicklungen geben Grund zur verhaltenen Hoffnung, dass sich der globale Kohleausstiegs dennoch organisieren lässt. Erstens: Deutschland, die USA, Großbritannien und andere westliche Partnerstaaten haben angekündigt, den Kohleausstieg in Südafrika mit 8,5 Milliarden Dollar zu unterstützen. Das Geld soll vor allem den Regionen zu Gute kommen, die momentan stark von der Kohle abhängig sind, und dort zum Beispiel neue Arbeitsplätze schaffen. Zweitens: Die Asiatische Entwicklungsbank hat ein Programm aufgelegt zu Aufkauf und Stilllegung bestehender Kohlekraftwerke, es läuft jetzt etwa auf den Philippinen oder in Indonesien an. Und drittens: China hat angekündigt, keine Kohlekraftwerke mehr im Ausland zu finanzieren – was in vielen Ländern die einzige Kapitalquelle für Kohlekraftwerke versiegen lässt.
Alle drei Entwicklungen haben eines gemeinsam: Sie helfen, weil sie an den politischen Realitäten ansetzen. Jetzt kommt es darauf an, dass dies den armen, aber bislang schnell wachsenden Schwellenländern nicht zum Nachteil gereicht und sich ihre Entwicklung dadurch nicht verzögert. Sie benötigen zusätzliche Unterstützung durch die Industrieländer: bei Investitionen in die sauberen Alternativen zur Kohleverstromung, speziell in Netze und Speicher, und auch bei institutionellen Reformen etwa im Strommarkt, die sie weniger anfällig für Partikularinteressen der Kohlelobby machen.
Der globale Kohleausstieg muss jetzt politisch organisiert und bis 2030 weitreichend umgesetzt werden. Das ist ein wichtiger Lackmustest für den internationalen Klimaschutz. Eine weitere verlorene Dekade können wir uns im Kampf gegen die Erderhitzung nicht erlauben.
Zuerst erschienen am 29. April 2022 in der „Süddeutschen Zeitung“.