Die EU sollte Lieferungen für alle Mitgliedstaaten mit Gazprom zum Festpreis verhandeln. Deutschland muss dann Subventionen streichen, fordern Ottmar Edenhofer und Lion Hirth.
Russland dreht den Gashahn zu. Die Gasflüsse nach Deutschland sind zwar noch nicht ganz versiegt, aber Präsident Wladimir Putin kann sie stoppen, wann immer es ihm im Rahmen seiner Kriegsführung günstig erscheint. Inzwischen ist klar: Weder bestehende Verträge werden ihn davon abhalten noch die Einwände seines Sicherheitsapparates oder wirtschaftliche Einbußen. Lange haben wir darüber gestritten, ob die Bundesregierung die Einfuhr von russischem Gas verbieten soll. Die Frage ist nun obsolet. Jetzt müssen wir uns darauf vorbereiten, einen vollständigen Lieferstopp zu verkraften.
Gas wird in Deutschland dringend benötigt, zum Heizen und für warmes Wasser in jeder zweiten Wohnung, aber zum Beispiel auch in der industriellen Produktion. Es wird etwa zu Düngemittel verarbeitet, angesichts der globalen Nahrungsmittelkrise ein derzeit besonders sensibles Gut. Es wird in der Produktion von Fensterglas verwendet, die nicht unterbrochen werden kann, ohne die Fertigungsanlagen irreparabel zu beschädigen. Und es wird auch in der Lebensmittelindustrie gebraucht, etwa zur Pasteurisierung von Milch: Ohne Gas keine Milch in den Regalen der Supermärkte.
Die bestehenden Lieferverträge mit Russland müssen europaweit aufgehoben werden
Unter solchen Rahmenbedingungen muss Deutschland jetzt den Gasverbrauch drastisch senken. Es genügt nicht mehr, Notfallpläne für den Fall einer endgültigen Lieferunterbrechung zu entwerfen: Wir müssen sofort massiv Gas einsparen, um eine physische Knappheit gegen Ende der Heizperiode zu vermeiden.
In einer aktuellen Studie schätzen wir, dass die privaten Haushalte ihren Gasverbrauch seit Kriegsbeginn um bundesweit 6 Prozent gesenkt haben und die Industriebetriebe um 11 Prozent. Auf ein Jahr gerechnet würden so etwa 70 Terrawattstunden Erdgas eingespart. Das reicht noch lange nicht, es ist weit weniger als der drohende Lieferausfall. Letztes Jahr bezogen wir aus Russland 430 Terrawattstunden Erdgas.
In drei zentralen Handlungsfeldern müssen deshalb jetzt Maßnahmen ergriffen werden: Wir müssen die Vertragsbeziehung mit Russland neu gestalten, Energiesubventionen für Industrie und Verbraucher abschaffen und den Schutz vulnerabler Haushalte gewährleisten.
Es bedarf zunächst einer europaweiten gesetzlichen Regelung, welche die bestehenden Lieferverträge mit Russland aufhebt. Für anschließende direkte Gespräche mit Gazprom sollte die EU einen Chefunterhändler ernennen. Im Ergebnis sollte sie einen Festpreis von zum Beispiel 50 Euro je Megawattstunde anstreben, um zu verhindern, dass Gazprom den Preis weiter hochtreibt (aktuell liegt der Börsenpreis bei 175 Euro). Für künftige Lieferungen müsste man bis auf Nord Stream 2 alle verfügbaren Pipelines nutzen, um echte und angebliche technische Ausfälle schnell kompensieren zu können. So ließe sich verhindern, dass Putin an dieser Stelle Europa entzweit, indem er vielen Ländern das Gas abdreht und andere weiter beliefert.
Das zentral eingekaufte Erdgas würde die EU dann auf dem europäischen Gasmarkt weiterverkaufen, sodass es an Unternehmen und Haushalte geliefert werden kann. Die durch die Differenz zum Endverkaufspreis entstehenden Einnahmen könnte sie dafür verwenden, private Haushalte und Unternehmen für Preissteigerungen zu kompensieren.
Die Politik sollte Subventionen streichen, um Anreize zum Energiesparen zu schaffen
Auch wenn es überraschend klingen mag: Es ist durchaus denkbar, dass Putin im weiteren Verlauf des Ukraine-Kriegs den Gashahn für Europa wieder aufdreht, um durch ein solches Hin und Her für permanente Unsicherheit auf dem Gasmarkt sorgen. Der EU-Festpreis macht ihm dann einen Strich durch die Rechnung: Der Anreiz zum Energiesparen bleibt erhalten, die Risikoprämie für die Wirtschaft zum Absichern der Preise am Finanzmarkt bleibt niedrig.
Damit Einsparpotentiale beim Gasverbrauch möglichst weitgehend genutzt werden, sollte die Politik zudem alle Subventionen streichen, die ihn anheizen. Die hohen Gaspreise sind volkswirtschaftlich schmerzhaft, aber sie bieten auch Anreiz, mit dem Brennstoff sparsam umzugehen. Sie sind eher Teil der Lösung als Teil des Problems. Es ist also kontraproduktiv, dass die meisten EU-Länder in den letzten Monaten mit neuen Subventionen die Konsequenzen der von Russland hochgetriebenen Energiepreise versuchen abzumildern: mit vergünstigtem Gas für Kraftwerke in Spanien, mit dem Streichen der Mehrwertsteuer auf Gas in Polen oder mit dem fünf Milliarden Euro teuren Programm zur Dämpfung der Energiekosten für die deutsche energieintensive Industrie.
Solche Subventionen machen Energie für Konsumenten effektiv günstiger, treiben also den Verbrauch – was den Preisanstieg verstärkt. Keine Frage: Es ist wichtig, Unternehmen in der Energiekrise nicht allein zu lassen. Die Politik kann wie in der Corona-Pandemie besonders betroffenen Firmen mit einer Nothilfe durch die Krise helfen, etwa in Form von Finanzspritzen. Doch sie darf eben nicht die Einsparanstrengungen unterlaufen. Der Preismechanismus muss wirken – nur so wird für die gesamte Volkswirtschaft das Signal gesendet, das Einsparungen dort einleitet, wo sie am kostengünstigsten erbracht werden können.
Und es bedarf einer klaren und konsistenten Kommunikation: Ja, Heizen wird im nächsten Winter deutlich teurer, und das Energiesparen ist der einzig sinnvolle Ausweg. Ein Anschreiben aller Gaskunden durch ihren Energieversorger mit diesem klaren Hinweis, gepaart mit einfach umzusetzenden Verhaltensratschlägen, wäre ein denkbares Mittel.
Einkommensschwache Haushalte brauchen Unterstützung
Aber es ist auch klar: Die zusätzlichen Belastungen für Haushalte müssen abgefedert werden. Für eine 100-Quadratmeter-Altbauwohnung mit Gasheizung könnten die monatlichen Heizkosten von 100 Euro auf 350 Euro oder mehr steigen. Für viele einkommensschwache Haushalte ist ein solcher Anstieg nicht zu verkraften. Die Bundesregierung hat zwar schon zwei Entlastungspakete geschnürt, aber damit eben zum Teil nur den Energieverbrauch subventioniert, etwa über den Tankrabatt oder die Absenkung der EEG-Umlage und viele Maßnahmen sind ja zeitlich begrenzt.
Bei weiter steigenden Gaspreisen reicht das nicht, aus, um die unteren und mittleren Einkommen ausreichend zu entlasten. Die Bundesregierung wäre gut beraten, jetzt die administrativen Voraussetzungen für regelmäßige, direkte Einkommenstransfers zu schaffen, um bei einer Verschärfung der Lage schnell reagieren zu können. Ein möglicher Kanal wäre die Familien- oder Krankenkasse. Bei Direkttransfers bleibt es lohnenswert, den Gasverbrauch zu verringern, etwa durch Absenken der Raumtemperatur, Stoßlüften oder auch intelligente Heizkörperthermostate. Wer besonders gut spart, steht am Ende vielleicht sogar besser da.
Stark steigende Gaspreise bedeuten für Deutschland ein erhebliches soziales Risiko. Putin weiß das. Er darf daraus keinen Nutzen ziehen. Und es darf sich nicht in das historische Gedächtnis einbrennen, dass steigende Preise für fossile Ressourcen mit sozialen Verwerfungen und mit der Gefährdung des sozialen Zusammenhalts verbunden sind. Eine effektive und gerechte Kompensation kann das verhindern und in diesem geopolitischen Großkonflikt die politische Handlungsfähigkeit Europas sichern.
Zuerst erschienen am 15. Juli 2022 im „Handelsblatt“.