So klar wie noch nie beschreibt der neue Bericht des IPCC den Handlungsbedarf und auch die Optionen beim Kampf gegen die Erderhitzung. Doch es braucht mehr Tempo, analysiert Sabine Fuss.
Raus aus fossilen Brennstoffen – wie nötig das ist, führen uns der Ukraine-Krieg und der Niedergang unserer Beziehungen zum wichtigsten Energielieferanten Russland gerade dramatisch vor Augen. Dass daran sowieso kein Weg vorbeiführt, weil Öl, Gas und Kohle die Erderhitzung befeuern und uns damit enorme Kosten für die Zukunft auflegen, hat uns der Weltklimarat IPCC bereits im August 2021 und im Februar 2022 in beispielloser Präzision aufgezeigt – in den beiden ersten Teilen des sogenannten Sechsten Sachstandsberichts (AR6). Gestern kam nun der dritte und letzte Band hinzu: Er zeigt so klar wie noch nie die Dringlichkeit der Energiewende auf – aber auch die Möglichkeiten, den Klimakollaps abzuwenden.
Die wichtigste Nachricht des neuesten Berichts lautet: Das 1,5-Grad-Ziel ist immer noch in Reichweite für das Jahr 2100. Bereits 2015 hat sich ja die Staatengemeinschaft im Weltklimaabkommen von Paris darauf geeinigt, dass ein Temperaturanstieg um mehr als 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau zum Ende dieses Jahrhunderts eigentlich nicht akzeptabel ist: Es müssen „Anstrengungen unternommen“ werden für eine entsprechende Begrenzung, mindestens aber für eine Begrenzung auf „deutlich unter“ 2 Grad.
Ein schneller Sonderbericht zu 1,5 Grad globaler Erwärmung zeigte 2018, dass dieses Limit noch zu schaffen war, aber nur mit viel Tempo beim Klimaschutz und weltweite CO2-Neutralität bis Mitte des Jahrhunderts. Der gestern vorgestellte Bericht kommt nun zu dem Schluss: Das ist durchaus zu schaffen – nicht für alle Regionen der Welt, aber auf globaler Ebene.
CO2-Neutralität bis Mitte des Jahrhunderts bedeutet: Um 2050 müssen alle dann noch ausgestoßenen CO2-Emissionen dadurch kompensiert werden, dass das Klimagas zugleich an anderer Stelle aus der Atmosphäre entfernt wird. Immerhin sind Ziele mit „netto null Emissionen“ in den letzten Jahren von der EU, den USA und sogar China (für 2060) angekündigt worden, im novellierten Klimaschutzgesetz Deutschlands findet sich sogar die Jahreszahl 2045 für die gesamten Treibhausgase.
Breiterer Erkenntnisstand zu CO2-Entnahme als in früheren Berichten
In den wissenschaftlichen „Klimaschutzpfaden“, die das 1,5-Grad-Ziel gewährleisten und die der Weltklimarat für seinen neuesten Bericht auswerten konnte, sind CO2-Entnahmen eine unentbehrliche Komponente. Das spiegelt wider: Das mit 1,5 Grad kompatible verbleibende CO2-Restbudget der Menschheit geht rasant zur Neige; die Erfolgschance, das Ziel zu schaffen, ist deutlich geringer als bei Veröffentlichung des Sonderberichts vor dreieinhalb Jahren.
Zudem werden manche Sektoren, wie etwa die Landwirtschaft, auch nach 2050 noch Restemissionen aufweisen – vor allem die Nicht-CO2-Emissionen wie Methan gilt es durch CO2-Entnahmen auszugleichen. Mit höheren Methan-Einsparungen können sowohl die Abhängigkeit von Entnahmen als auch das Risiko, das Temperaturziel mittelfristig zu überschießen, deutlich verringert werden.
Im Vergleich zu früheren Berichten weist der Weltklimarat inzwischen einen breiteren Kenntnisstand zu den verschiedenen Technologien und Praktiken aus, mit denen sich CO2 aus der Atmosphäre entnehmen lässt. Dies ist sehr hilfreich für die Debatte, die in den nächsten Jahren geführt werden muss: um ein Portfolio von Entnahme-Maßnahmen, das ökologisch nachhaltig ist, wirtschaftlich und gesellschaftlich akzeptabel und auch resilient gegenüber fortschreitendem Klimawandel und möglichen künftigen Weltkrisen.
Außerdem setzt sich eine Erkenntnis deutlich fort, die als Nebenaspekt bereits in dem IPCC-Sonderbericht von 2018 vorkam: Das Energieangebot fossilfrei zu machen, etwa durch Sonne oder Wind als Quellen und durch Wasserstoff als Träger, ist beim Klimaschutz nur die eine Seite der Medaille.
Neue gangbare Wege in eine „nur“ 1,5 Grad heißere Welt
Große Potentiale gilt es auch auf der Nachfrageseite zu heben, durch ein verändertes Energienutzungsverhalten und Lebensstil-Änderungen etwa bei Mobilität, Wohnen oder Ernährung. Wenn die Regierungen in aller Welt das in den Blick nehmen und entsprechend in ökonomische Anreize, neue Infrastrukturen, aber auch Information und Aufklärung investieren, dann ist das 1,5-Grad-Ziel um einiges leichter zu erreichen.
Anstrengungen in diese Richtung ermöglichen es laut den wissenschaftlichen Szenarien, dass es zur Mitte des Jahrhunderts deutlich weniger Restemissionen gibt als in traditionelleren Klimaschutzpfaden ausgewiesen. Entsprechend geringer können dann die CO2-Entnahmen ausfallen. Der neue IPCC-Bericht bietet zu diesen sogenannten nachfrageseitigen Klimalösungen erstmals ein eigenes Kapitel, bei dem ein Gruppenleiter unseres Instituts als Koordinierender Leitautor federführend war.
Das ist eine für die künftige Klimapolitik bedeutsame Veränderung: Dass das Spektrum der wissenschaftlichen Szenarien an dieser Stelle substanziell ausgeweitet wird, bedeutet neue gangbare Wege in eine „nur“ 1,5 Grad heißere Welt. Die Klimapolitik kommt an dieser Stelle in Bewegung, auch wenn das wegen des Ukraine-Kriegs derzeit keine Schlagzeilen macht.
Der Bericht bildet umfassender als je zuvor den Stand der Emissionstrends ab – auch hier federführend koordiniert durch einen Kollegen vom MCC. Aber er zeigt eben auch die Möglichkeiten, diese Trends umzukehren. Bemerkenswert ist der Befund, dass die Technologien für den Klimaschutz immer preiswerter werden – von Solarpanelen (mit einem Preisrückgang von rund 60 Prozent seit 2015) über Windanlagen bis zur Stromspeicherung.
Ein CO2-Preis von 100 Euro kann schon viel bewirken
Doch warum schlägt sich das nicht längst in einem schnelleren Umbau der Wirtschaft nieder? Das liegt vor allem am Fehlen von Glaubwürdigkeit der Klimapolitik, das die ökonomische Anreizwirkung schmälert: Die Marktakteure erwarten politische Rückzieher und richten ihr Handeln zum Teil an weniger drastischen als den angekündigten Maßnahmen aus.
Insbesondere bei der aus Sicht vieler Regierungen politisch schwer umsetzbaren CO2-Bepreisung fehlt es noch an überzeugenden und mit dem 1,5-Grad-Ziel kompatiblen Politikmaßnahmen. Dabei gibt der Bericht einen Hinweis darauf, dass die Preise nicht in den Himmel steigen müssen: Von den globalen Emissionen des Jahres 2019 lässt sich bis 2030 die Hälfte mit Technologien einsparen, die pro Tonne vermiedenen CO2-Ausstoßes 100 Euro oder weniger kosten. Zum Vergleich: Der Marktpreis für eine Tonne CO2 im Europäischen Emissionshandel liegt aktuell bei knapp 80 Euro.
Insgesamt legt der Weltklimarat hier eine dringend benötigte, beispiellos umfassende Wissenssynthese vor. Er liefert damit eine unentbehrliche Informationsgrundlage für die Klimapolitik. Er zeigt eindrücklich, was getan werden muss – und auch zum Wie, mit dem sich der IPCC aufgrund seines auf Konsens ausgerichteten Beschlussprocedere mit pointierten Aussagen etwas schwertut, gibt es in der Klimaökonomie ja einen viel breiteren Erkenntnisstand als noch vor wenigen Jahren.
Der Prozess muss Fahrt aufnehmen, das Ambitionsniveau weiter steigen. Das Wort von der „Zeitenwende“, das der Bundeskanzler angesichts des Ukraine-Kriegs in Bezug auf die Sicherheitspolitik proklamiert hat, passt auch zum Thema Klimaschutz: Es gilt, die Kosten von Klimaschäden für künftige Generationen beherrschbar zu halten und ihnen eine lebenswerte Existenz zu ermöglichen.
Erschienen am 5. April 2022 auch im „Handelsblatt“.