Die Welt ist aus den Fugen – und der alte Streit ums „System“ lebt neu auf. Also: Wieviel wollen, müssen wir grundsätzlich ändern? Eine Annäherung.
Corona hat dazu geführt, dass nun selbst in der Mitte der Gesellschaft radikale Fragen an unsere Wirtschaftsordnung gestellt werden. Als „Menschenopfer für den Kapitalismus“ kritisierte ein Essay in der Zeit die Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen. „Wir haben es übertrieben“ mit der kapitalistischen Globalisierung, konstatierte unlängst Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble etwas grundsätzlicher in einem Interview mit dem Tagesspiegel. Selbst Bundestrainer Joachim Löw gibt der kapitalistischen Gesellschaftsordnung – auf einer Fußball-Pressekonferenz! – eine Mitschuld am globalen Corona-Desaster: „Die Erde scheint sich ein bisschen stemmen und zu wehren gegen die Menschen und gegen ihr Tun. Macht, Gier, Profit, Rekorde standen im Vordergrund.“
Fakt ist: ohne eine globalisierte Weltwirtschaft hätte sich das Virus nicht in Windeseile verbreiten können. Zudem wird sich die ausgesprochene Ungleichheit von Einkommen, Vermögen, Zugang zu Bildung, Gesundheit sowie politischer Mitgestaltung durch Covid-19 sehr wahrscheinlich noch weiter verstärken. Gleichzeitig hat auch die Klimakrise, trotz kurzfristig sinkender Emissionen, in der Corona-Ära nichts an Aktualität verloren. Nicht zuletzt aufgrund des Drucks von KlimaschützerInnen verzichtete die Bundesregierung in ihren Konjunkturpaketen auf eine Abwrackprämien zur Unterstützung der Automobilindustrie. Sind dies erste Anzeichen eines Übergangs zu einer post-kapitalistischen Wirtschaftsordnung, in welcher nicht Profite, sondern das Wohl der Menschen und der Erhalt der Umwelt im Zentrum stehen?
Den Kapitalismus abschaffen? Falsche Frage
Unsere gegenwärtige Wirtschaftsordnung ist sehr wahrscheinlich nicht geeignet, um den Klimawandel aufzuhalten. Trotz jahrzehntelanger Verhandlungen und rapiden Innovationen bei sauberen Energien erreichen die Treibhausgasemissionen Jahr für Jahr – mit nur kurzer Unterbrechung durch die ein oder andere Wirtschaftskrise – neue Höchststände. Dies verwundert nicht, wenn man in Betracht zieht, dass seit der industriellen Revolution fossile Treibstoffe ein zentraler Bestandteil kapitalistischer Ökonomien sind. Heißt das also, dass man den Kapitalismus abschaffen muss, um die weitreichende Veränderungen unserer Energieerzeugung und -nutzung, Mobilität sowie Landnutzung zu ermöglichen, welche für eine sozial gerechte Welt mit einer intakten Umwelt notwendig sind?
Wer so pauschale, die alten Lager festigende, Fragen stellt, verhindert jeglichen Fortschritt in der Debatte. Vielmehr müssen wir angesichts der komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts die einzelnen Elemente unserer Wirtschaftsordnung kritisch unter die Lupe nehmen. Denn die Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus hängt entscheidend davon ab, was man genau unter „Kapitalismus“ versteht. Während manche den Kapitalismus vor allem durch die Institutionen Markt und Privateigentum definieren, rücken andere Machtverhältnisse und materialistische Denk- und Konsummuster ins Zentrum ihrer Betrachtung. Diese mehrdeutige Definition des Begriffs „Kapitalismus“ erschwert eine konstruktive Debatte und lädt zu Missverständnissen ein. Führen Märkte und Privateigentum automatisch zu Ungleichheit und Machtkonzentration? Oder ist doch eine sozial gerechte, ökologisch nachhaltige Wirtschaft in einer Marktwirtschaft mit einem wohldefinierten Ordnungsrahmen möglich? Und wenn ja, fällt eine solche „öko-soziale Marktwirtschaft“ noch unter die Definition von Kapitalismus oder nicht?
Wir sind der Ansicht, dass unterschiedliche Vorstellungen davon, was den Kapitalismus genau ausmacht, den Blick auf potenzielle Lösungsansätze verstellen. Die zentrale Frage zur Zukunft unseres Wirtschaftssystems sollte daher sein, welche Eigenschaften unserer aktuellen Ordnung zu unerwünschten Ergebnissen führen und welche Alternativen denkbar sind.
Nachdenken über ein nachhaltiges Wirtschaftssystem
Für eine konstruktive gesellschaftliche Debatte über ein nachhaltiges Wirtschaftssystem, für die die Zeit nun reif scheint, schlagen wir daher drei Eckpfeiler vor.
Erstens müssen wir wissenschaftsinformierte demokratische Beteiligungsverfahren etablieren, in denen gemeinsam und offen über konkrete Alternativen für unser Wirtschaftssystem nachgedacht werden kann, trotz aller Unsicherheiten dieser Zukunftsideen. Denn es ist sicherlich mehr als eine konkrete sozial und ökologisch nachhaltige Wirtschaftsform dankbar. Dabei ist davon auszugehen, dass man eine nachhaltige Wirtschaft nicht am Reißbrett entwerfen kann. Plausibler erscheint es, sich ihr inkrementell anzunähern, indem die in den folgenden Absätzen diskutierten Hindernisse für eine nachhaltige Entwicklung Schritt für Schritt abgebaut werden. Dieser Ansatz könnte durch verschiedene Szenarien notwendiger sozialer, politischer und institutioneller Veränderungen unterstützt werden. Solche Szenarien könnten als Grundlage für öffentliche Deliberation fungieren, um Zielkonflikte aufzuzeigen und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen der Maßnahmen zu identifizieren.
Zweitens muss innerhalb solcher deliberativer Prozesse die Ungleichverteilung von politischer Macht sowie von Einkommen und Vermögen ein zentrales Thema sein. So ist etwa der Lobbyismus einflussreicher Interessensgruppen, der oftmals wirtschaftliche Eliten bereichert und Klimaschutzambitionen gebremst hat, ein Thema, bei welchem konkrete Lösungsansätze ausgearbeitet werden könnten – und dies unabhängig davon, ob man solche Maßnahmen nun als grundlegende Abkehr vom Kapitalismus begreift oder nicht. Dies gilt auch für Reformmöglichkeiten bezüglich der Steuerpolitik, um bestehende Widersprüche zwischen ökonomischer Rationalität und moralischer Verpflichtung für das Gemeinwohl aufzuheben. So würde zum Beispiel eine konsequente Besteuerung von Treibhausgasen dazu führen, dass die moralisch gebotene Vermeidung von Treibhausgasen sich auch wirtschaftlich auszahlt. Die Besteuerung von Einkommen aus dem Besitz von Land und natürlichen Ressourcen wäre ein weiterer Hebel, um Umweltschutz mit sozialer Gerechtigkeit in Einklang zu bringen.
Drittens werden im Zuge der Kapitalismuskritik häufig Materialismus und Gier angeprangert. Unabhängig von der Frage, ob eine Marktwirtschaft diese niederen Instinkte des Menschen eher verstärkt oder vielmehr den durch sie verursachten Schaden begrenzt, steht außer Frage, dass eine funktionierende Gesellschaft nicht auf Egoismus und der Priorisierung kurzfristiger Eigeninteressen aufgebaut werden kann. Auch hier ergeben sich offensichtliche Zusammenhänge mit Anstrengungen zum Schutz des Weltklimas: Klimaschutz lohnt sich vor allem dann, wenn die möglicherweise katastrophalen Auswirkungen ungebremsten Klimawandels auf Menschen in anderen Weltregionen sowie auf zukünftige Generationen mitberücksichtigt werden. Das erwähnte gemeinsame Deliberationsverfahren kann dazu beitragen, kulturelle und institutionelle Rahmenbedingungen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und nicht-materialistischen Geisteshaltungen zu schaffen. Solch konkrete Schritte zu mehr gesellschaftlicher Verantwortung können unternommen werden, ohne dass dazu zwingend ein Konsens über die Rolle von Marktwirtschaft oder Privatbesitz in unserer Wirtschaftsordnung nötig ist.
Fazit
Die Corona-Krise hat uns deutlich einige Schwachstellen unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung aufgezeigt. Um die gewaltigen sozialen oder ökologischen Herausforderungen, mit denen die Welt sich im Moment konfrontiert sieht, erfolgreich meistern zu können, werden weitreichende Veränderungen notwendig sein. Unser Ansicht nach hat sich die Debatte darüber, welches Wirtschaftssystem mit einer nachhaltigen Entwicklung gewährleisten kann, in Missverständnissen, was sich genau hinter dem Begriff „Kapitalismus“ verbirgt, verheddert.
Wir müssen vielmehr ganz konkret diskutieren: Wo genau ballt sich Macht zusammen, wo verhindert ungleicher Wohlstand eine echte Demokratie, und wie schaffen und bewahren wir tragfähige Normen und Werte? So können Wege zu einer Wirtschaft, welche menschliches Wohlergehen gewährleistet, ohne dabei unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu gefährden, in einem gemeinsamen Lernprozess exploriert werden. Ob man die dann entstehende Wirtschaftsordnung dann noch als Kapitalismus bezeichnen mag oder nicht, ist Geschmackssache. Was zählt, ist letztlich eine bessere Welt.
Zuerst erschienen auf makronom.de